Wie alle, die mich kennen, wissen, habe ich eine angeborene Sehbehinderung mit extremer Lichtempfindlichkeit infolge einer erblichen Stoffwechselerkrankung. Das bedeutet, ich habe 10 % Sehfähigkeit, die auch mit der heutigen Medizin nicht zu verbessern sein wird.
Meine Schulausbildung begann mit dem Besuch einer Sprachheilgrundschule in Bad S., auf die ich von der 1.-3. Klasse ging. Auf diese Schule kamen alle Kinder aus der Umgebung, die an körperlichen oder geistigen Entwicklungsstörungen oder Behinderungen litten, auch wenn keine Sprachstörungen vorlagen. Und so kam auch ich mit meiner Sehbehinderung dort hin. Das Problem der Schule war für mich, daß in den sehr kleinen Klassen mehrere Kinder mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten waren, so daß die Lehrer sich nicht, wie erhofft, ausreichend um mich kümmern konnten.
Da ein Umzug nach H. anstand, bot es sich an, daß ich ab der 4. Klasse auf die dortige Schule für Blinde und Sehbehinderte gehen konnte. Leider ist es an derartigen Schulen üblich, daß dort außer sehgeschädigten Kindern ebenfalls geistig- und lernbehinderte Schüler mit Sehschädigungen sind. Daher ist das Lernniveau für Kinder mit normaler Intelligenz extrem niedrig. Obwohl der Unterricht für mich sehr leicht und absolut auf die Sehbehinderung abgestimmt war, fühlte ich mich dort nie richtig wohl. Dies hing einmal mit der Unterforderung im Unterricht zusammen, aber ein stärkerer Aspekt war, daß ich damals trotz meines jungen Alters sehr genau gemerkt habe, wie ich von der „normalen Welt“ ausgegrenzt war. In dieser Schule wurde ich in eine Reihe eingeordnet, in der Kinder waren, die „viel mehr behindert“ waren als ich. Ich fühlte mich dort einfach fehlplaziert, da ich mich nicht für derart behindert hielt, daß ich nicht mit gesunden Kindern zur Schule gehen könnte.
Meine Eltern hörten von einem neu entstandenen Zentrum zur Förderung sehgeschädigter Kinder in Schleswig-Holstein, welches das Ziel verfolgte, sehgeschädigte Kinder in normale Schulen zu integrieren. Mit Hilfe einer Beratungslehrerin dieses Zentrums wurde es möglich, daß ich ab Herbst 1986 in die 5. Klasse am Gymnasium E. gehen durfte. Mit großer Freude über „die Integration ins normale Leben“ blieb ich an dieser Schule und konnte in all den Jahren sehr gut lernen, mich mit meiner Behinderung zurecht zu finden.
Hierin besteht auch ein großer Unterschied zu einer Sonderschule, auf der man ausschließlich mit ebenfalls behinderten Menschen zusammen ist und wo daher keine Veranlassung besteht, sich selbstbewußt mit der Behinderung und seinen Schwierigkeiten im gesellschaftlichen Leben auseinanderzusetzen.
In gleicher positiver Weise, wie ich von der Schulleitung auf die Schule aufgenommen wurde, haben mich auch die Lehrer und Mitschüler in den Unterricht und in das normale Schulleben integriert. In all den Jahren bin ich niemals auf Abwehr und Zweifel gestoßen, wenn es darum ging, neuen Lehrern meine Lage zu schildern und um die entsprechende Unterstützung zu bitten. Ich will einfach mal sagen, daß ich immer wieder die gute Erfahrung machen konnte, auf Hilfsbereitschaft zu treffen, die sich dann in der Praxis auch tatsächlich als Hilfe erwiesen hat. Durch diese in den meisten Fällen sehr gute Kooperation zwischen Lehrern, Mitschülern und mir, konnte es gelingen, daß meine behindertenbedingten Nachteile im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten weitgehend ausgeglichen waren, so daß ich relativ gleiche Chancen wie alle anderen im Schulleben bekam.
Dennoch möchte ich bemerken, daß es trotz aller Hilfe und Unterstützung ein enorm größerer Energie- und Kraftaufwand ist, wenn man trotz einer Behinderung, mit den Leistungen und Anforderungen mithalten will, die gestellt werden. Meiner Ansicht nach ist dies ein Aspekt, der vielen gar nicht bewußt wird, da nicht jeder, der unter einer Behinderung leidet, auch automatisch „behindert“ wirkt. Außerdem halte ich es für ein Kennzeichen unserer „sozialen“ Gesellschaft, daß die Bereitschaft oft fehlt, einen Menschen mit einer Behinderung in seiner Situation richtig verstehen zu wollen. Das oberflächliche Verständnis ist schnell aufgebracht, aber wenn es darum geht, anderen die Probleme, die man mit der Behinderung hat, näherbringen zu wollen, trifft man allzu oft auf Blockaden, da die Leute sich lieber nicht mit derartigen Schwierigkeiten befassen wollen.
Dadurch können die Belange, die ein behinderter Mensch benötigt, schnell mal vergessen werden und es kommt zu den Situationen, die aus der Sicht vieler Mitschüler und Lehrer nur „kleine und relativ bedeutungslose Dinge“ waren, die mir aber das Schulleben so manches Mal sehr erschwert haben, weil es sich jedesmal wieder um eine gewisse Abgrenzung und Benachteiligung durch die Behinderung handelte.
Ich möchte abschließend zu meiner Situation sagen, daß ich die Hilfsbereitschaft und auch das Verständnis von vielen Lehrern und Mitschülern sehr zu schätzen weiß, weil es wirklich keine Selbstverständlichkeit ist, daß eine Integration so gut verläuft, wie in meinem Fall.
Um mit diesem Artikel auch nachhaltig etwas bewirken zu können, möchte ich alle Leser darauf aufmerksam machen, welche Bedeutung es für einen behinderten oder kranken Menschen hat, „einer von allen zu sein“ und weitgehend gleiche Chancen zu bekommen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
So ist es für mich enorm bedeutsam, daß ich mit meiner starken Sehschädigung ein gutes Abitur an einer Regelschule machen konnte.
Darum möchte ich jeden auffordern, diese wichtige zwischenmenschliche Beziehung der Integration behinderter und kranker Menschen dort zu fördern, wo man mit der Situation konfrontiert wird.
Um dies wirklich sinnvoll realisieren zu können, halte ich es für wichtig, sich den Schwierigkeiten des behinderten Menschen zu öffnen und zu versuchen, seine Situation einfach mal zu verstehen – nicht die Situation ändern zu wollen, sondern schlichtes Verständnis aufzubringen, um dann auch richtig auf alle Belange eingehen zu können.
Genauso wäre es meiner Ansicht nach sehr zu begrüßen, wenn wir Menschen unserer hochentwickelten Gesellschaft wieder mehr lernen könnten, auf einander einzugehen, um uns gegenseitig verstehen und helfen zu können.
wie die Fische zu schwimmen.
Doch wir haben die einfache Kunst verlernt,
wie Brüder zu leben.
Martin Luther King
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B.P. 1996