Ach, wenn sie doch ein Albino wäre…

Über Albinismus, Albinos und das Los, ein ganz besonderes Kind zu haben

Alle Eltern, bei deren neugeborenem oder auch schon älterem Kind die Diagnose „Albinismus“ gestellt wird, haben ihre ganz persönliche Geschichte zu erzählen. Ausgenommen solche Mütter und Väter, die bereits ein Albinismus-Kind haben, findet sich wohl jeder konfrontiert mit einer Krankheit -ich würde es manchmal lieber ein „Phänomen“ nennen-, mit der er sich zuvor nie oder nur am Rande beschäftigt hat. Solche Erfahrungsberichte finde ich immer sehr interessant. Bei Gesprächen, die mein Gefährte und ich mit anderen Eltern führten, war häufig die Rede von einem „ganz tiefen Loch“, in das man zunächst gefallen sei, von Schock und Bestürzung. Bei uns war das anders. Als wir mit unserer damals viermonatigen Tochter das Sprechzimmer von Frau Dr. K. verließen und wußten, „sie hat es“, fielen wir uns glücklich in die Arme.

Rückblende: U`s. Geburt am 1. Mai, ein Glücksdatum. Kaum waren wir im Geburtshaus angekommen („nur mal zur Kontrolle, es zieht so“), wollte U. raus. Aber wie es so häufig ist, das letzte Stückchen dauerte, genau zur Mittagsstunde sah man dann das Säuglingsköpfchen. „So schöne Haare! Ganz viele Haare! Ganz helle Haare! Streng Dich an, noch ein bißchen!“ spornten mich die beiden Hebammen an. Während M., meinem Gefährten, beim ersten Anblick „Ein Albino!“ durch den Kopf schoß, um diese allererste Intuition dann für die nächsten Monate zu vergessen, freute mich die Beschreibung der Hebammen, die gar nicht aufhörten mit der Beschreibung dieser leuchtenden Haarfarbe, so sehr, daß ich das kleine Wesen dann doch zügig zur Welt brachte. U. war da, sie war gesund und hübsch und die Haarfarbe empfand zwar jeder als eine Pracht, aber bei einem Vater mit hellblonden Haaren, weißen Augenbrauen und Wimpern und einer immerhin mittelblonden Mutter gab dies keinen Anlaß zu allzu großer Verwunderung. „Warum zittern denn die Augen die ganze Zeit so?“ besorgten sich zwar bald die Großmütter, aber wir hatten uns schon bei unserer ersten Tochter abgewöhnt, auf jeden mutmaßlichen Hinweis auf eine Abnormalität zu reagieren. Und immerhin hatte ja auch der Kinderarzt bei den üblichen Untersuchungen U2 und U3 nichts Ungewöhnliches festgestellt. Ende Juni dann verreiste ich mit den Kindern und meinen Schwiegereltern, um M. in Ruhe für sein Examen lernen zu lassen. Ein toller Urlaub, einzig die Versuche von Oma, U. eine Reaktion auf visuelle Reize abzugewinnen, nervten mich. „Die sieht doch nichts, schau mal“, fing U`s. Oma immer wieder an und vollführte Kunststückchen vor den Augen ihrer Enkelin. Ich fand dennoch alles normal, berichtete aber M. am Telefon davon. „Dann machen wir eben einen Arzttermin außer der Reihe“, schlug er vor, „und lassen uns schriftlich geben, daß alles in Ordnung ist.“ Gesagt, getan, wieder zu Hause gleich zum Kinderarzt, von dort ohne Verzögerung („es könnte um Stunden gehen!“) ins H. Kinderkrankenhaus. Hier wurde zwar der vermutete Katarakt (Grauer Star) schnell ausgeschlossen, aber dann begann ein wahres Martyrium für unsere U.. Hirnschädigung, Tumor? Was kam da auf uns zu? Hatte ich nicht in diesem alten Buch gelesen, Mütter die während der Schwangerschaft eine völlige Mondfinsternis anschauen, würden ein blindes Kind gebären? Hatten wir nicht im September 1997 ein Fest zu diesem Naturphänomen gefeiert – es war, als entzöge man uns den Boden unter den Füßen, es war fast gruselig. Nach endlosen Untersuchungen, nach Kernspintomographie und allerlei Tests dann die glorreiche Idee, uns an den Augenarzt im gleichen Haus zu überweisen. „Aber daß es wirklich etwas an den Augen ist, halten wir für ausgeschlossen“, so schickte man uns zu dem Doktor, einer angeblichen Koryphäe. Dort eine Tortur, die uns schon einige Eltern in variierbarer Form erzählt haben: das Kind gefesselt, die Augen mit Klammern aufgerissen – später weiß man, daß so etwas einem nie wieder passiert… „Wir wissen es nicht, Eventuell könnte es Albinismus sein“, sagte der Herr ernst, sehr ernst. Man riet uns, in einem halben Jahr einen erneuten Termin auszumachen. Unsere U. – kein krebskrankes Kind, keine Hirnschädigung, sondern ein Albino, eine Schneeweiße, ein Mondmädchen mit einer Sehbehinderung, mit der sich vielleicht ganz gut leben ließe? Ach, wäre sie doch ein Albino! Uns fielen unsere Überlegungen zur Namenswahl unseres Kindes ein, den Zweitnamen unserer Kinder wollten wir von ihren Großeltern übernehmen, so hieß unsere ältere Tochter E. nach der einen Uroma, und bei Undine schwankten wir lange zwischen Oma U. und meiner Großmutter A., entschieden uns dann aber zugunsten der U-Alliteration – es wäre ja auch zu komisch gewesen…

Zurück auf der Station mit unserem immer noch schreienden Baby dann die Ernüchterung: Albinismus halte man für ausgeschlossen, es gäbe deutliche Hinweise darauf, daß es etwas anderes sei. Wieder also völlige Ungewißheit. Als U. schließlich entlassen wurde, schlug man uns für nächstes Jahr (!) eine erneute stationäre Aufnahme vor. Der folgende Besuch beim Kinderarzt ergab dann den Hinweis auf eine Frühförderstelle, dort dann die Vermittlung der Adresse im Saarland. Als die Diagnose von Frau Dr. K. stand, blieb ein Rest Mißtrauen – was war denn gemeint gewesen, im Krankenhaus, mit den vermeintlichen Hinweisen, die Albinismus ausschliessen würden? Wieder zum Kinderarzt, mit der Bitte um Aufklärung. Hatte man im Krankenhaus denn vielleicht doch noch ein Indiz für eine schlimmere Krankheit entdeckt, das man uns aber zunächst aus Gründen der Schonung vorenthalten wollte? Die Begründung war banal: die Kinderspezialisten hatten Albinismus von ihren Überlegungen ausgeschlossen, denn „U. hat doch gar keine roten Augen“…

Abschließend noch eine Überlegung zur „Begriffspolitik“ Albino/ Albinismus: „Albino“ möge man nicht sagen, wird es gelegentlich, etwa auf der amerikanischen NOAH-Internet-Seite, oder auch in unserer NOAH-Zeitschrift vertreten. Diese Bezeichnung werten einige als diskriminierend, Frau Dr. K. schrieb einmal, durch die Bezeichnung „Albino“ würde der Mensch nach seiner Krankheit benannt. Wir empfanden diese Sprachregelung ein wenig zu „politisch korrekt“, immerhin rufen wir unsere U. ja zunächst „U.“ und benutzen nur zur Erklärung ihrer Krankheit das Wort „Albino“ – eben, wie ich mich selbst auch als Allergiker bezeichne und höchstens zufällig als „von einer Allergie betroffener Mensch“. Analoges ließe sich bei Diabetikern, Asthmatikern etc. denken. Außerdem: „Albino“ ist für mich eigentlich ein ganz schönes, rundes Wort, wogegen der „Mensch mit Albinismus“ meinem Sprachgefühl nach durch die Endung – ismus etwas sehr medizinisches, kühles angehängt bekommt, hier sehe ich eine sehr viel größere Betonung eines „Defekts“. Außerdem, das zeigt die Erfahrung in anderen Fällen, tendiert eine Bezeichnung, die mit einem gewissen Tabu belegt wird, sehr viel stärker zu einer üblen Verwendung als Schimpfwort, als Hänselname. Daneben habe ich mir auch schon Gedanken über einen eventuellen etymologischen Zusammenhang der Wörter „weiß“-„weise“ und „Albino“ mit dem altdeutschen Frauennamen „Alwine“ (bedeutet „die Allwissende“, „weise Frau“; wobei „b“ und „w“ zur gleichen phonetischen Klasse gehören)“ gemacht. Vielleicht gibt es ja unter den Noah-Mitgliedern berufene Germanisten? Nun gut: ich selbst bin letztlich ja nicht betroffen, und zuviel sollte man auch nicht mystifizieren bei einer Sehbehinderung, die solchen Menschen, die stark von ihr betroffen sind, vielleicht ein „normales“ Leben sehr erschwert. Vielleicht wird auch U. das einmal ganz anders sehen. Insgesamt, und dies sei das Schlußwort, bleibt zu hoffen, daß jeder von Albinismus Betroffene sein Anders-Sein so benannt findet, daß er sich nicht verletzt und beleidigt fühlt.

E.S. 1999