Erfahrungsbericht über den Schulstart unseres Sohnes

Auch für uns stellte sich am Ende der Kindergartenzeit die bange Frage: Welche Schulart sollen wir für unseren Sohn wählen? Wo ist er am Besten aufgehoben? S. hatte die Kindergartenzeit völlig problemlos durchlaufen, er ist ein helles Kerlchen und hatte die meiner Meinung nach, für ein sehbehindertes Kind, doch recht außergewöhnliche Leidenschaft, alle Buchstaben und Zahlen schon in früher Kindheit regelrecht zu verschlingen, (Schon mit knapp 3 Jahren dauerte jeder Spaziergang endlos, weil S. an jedem geparkten Auto die Nummernschilder vorgelesen haben wollte, vorne und hinten!)
Seine Sehschärfe wurde beim Augenarzt auf dem einen Auge ca. 10% und auf dem anderen Auge auf ca. 20% geschätzt. Zu unserer familiären Situation muss ich erklären, dass mein Mann Hausmeister an einer Grund- und Hauptschule ist und wir hier auch quasi in der Schule wohnen. So kannten Lehrkräfte, Sekretärin und Schulleiter unseren Sohn schon von Geburt an und auch S. ist hier im Schulgelände groß geworden. Daher fiel uns die Entscheidung für eine ganz normale Einschulung hier an der Regelschule mit Sicherheit leichter, als wenn wir unser Kind in „fremde“ Hände hätten geben müssen. Bei der Besichtigung des Klassenzimmers mit der künftigen Klassenlehrerin, mit der wir ein ausführliches Gespräch führen durften, kamen mir dann aber doch Zweifel. Die Entfernung von der ersten Reihe zur Tafel kam mir immer noch schrecklich weit vor. Würde S. die angeschriebenen Zahlen und Buchstaben wirklich lesen können? Als Starthilfe für die erste Klasse bekamen wir von Frau Dr. K. ein Lupenlineal verordnet, ansonsten war S. auf sich alleine angewiesen. Wir baten die Lehrer im Vorgespräch, Kopien bitte für S. zu vergrößern und bei Diavorträgen oder Filmen darauf zu achten, dass er in der ersten Reihe sitzen kann (ebenso bei Theaterbesuchen etc.) Außerdem baten wir die Klassenlehrerin, die Mitschüler über S`s. Probleme aufzuklären und die Punkte anzusprechen, bei denen er Hilfe benötigt.

Mit großem Herzklopfen sahen wir dann letzten September dem großen Tag entgegen – der Einschulung! Ich hatte einige schlaflose Nächte im Vorfeld, ob wir uns richtig entschieden hatten, vor allem, weil eine Lehrkraft den Satz geäußert hatte, ob es für „Solche“ Kinder nicht besser wäre, eine spezielle Schule aufzusuchen. (Lustigerweise hat er gerade von dieser Lehrerin, die den Sportunterricht erteilt, im Zeugnis eine hervorragende Beurteilung bekommen!) Zu unser aller Erstaunen verlief der Schulalltag von S. völlig ohne jede Komplikation, er war vom ersten Tag an gerade zu besessen vom Lernen und verschlang alles Neue gerade zu. Es konnte ihm nicht schnell genug gehen, und er machte sich geradezu einen Sport daraus, möglichst immer als erster fertig zu sein. Wenn er von der Bank aus etwas nicht sehen kann, dann geht er eben nach vorne an die Tafel und schaut nach. Nach Aussagen der Lehrerin wird das aber immer seltener, weil er meistens schon beim Zuhören alles mitkriegt und gar nicht mehr an die Tafel sehen muß. Er schreibt sehr viel aus dem Gedächtnis mit. Vergrößernde Sehhilfen benützt er bis zum jetzigen Zeitpunkt keine. Er hat zwar sein Lupenlineal immer im Schulranzen, aber er verwendet es so gut wie nie. Im Sportunterricht ist er mit Leib und Seele dabei. Sein Zeugnis zum Ende der ersten Klasse war eins der Besten in seiner Klasse. Wir stehen am Ende der ersten Klasse inzwischen vor dem Problem, dass wir immer wieder auf S`s. Sehbehinderung hinweisen müssen. Selbst die Klassenlehrerin fragte beim Elternsprechtag nach, „dass es doch nicht sein könne, das der Junge so schlecht sieht, er schreibt doch so schön in den Zeilen und in die Kästchen und er schafft doch alles so problemlos“. Auch S`s. Mitschüler haben glaube ich vergessen, dass S. eben doch seine Probleme hat. Dies merkt er vor allem in der großen Pause, dies ist nämlich seine Horrorzeit. Wenn 500 Schüler auf dem Schulhof rennen, schreien, raufen, dann steht S. meistens in der Ecke und hofft, dass bald die nächste Stunde losgeht. In dem Gewimmel kann er natürlich keinen Mitschüler erkennen, und wenn ihm von irgendwo jemand zuruft, dann weiß er auch nicht, wo er hin soll. Wir haben nun die Simulationsbrillen mitgegeben, um einmal alle Mitschüler durchsehen zu lassen und sind nun gespannt, was die zweite Klasse bringen wird. Manchmal habe ich Angst, was die Zukunft bringen wird, denn bisher kommt S. außerordentlich gut zurecht. Er ist schrecklich ehrgeizig und sehr streng mit sich selbst, und ich habe Angst vor dem Tag, an dem er zum ersten Mal bewusst an seine Grenzen stößt. Manchmal bin ich auch unsicher, ob wir es richtig machen, dass wir eigentlich soweit es möglich ist, über S`s. Sehbehinderung hinweggehen. Er sitzt zwar beim Fernsehen weiter vorne und geht beim Lesen näher ans Buch heran, aber ansonsten macht er alles genauso wie sein nicht betroffener Bruder. Ich glaube S. weiß bis heute noch gar nicht richtig, was eigentlich genau sein Problem ist. Er weiß natürlich, dass er schlechter sieht und bei Sonnenlicht schneller geblendet ist, aber ansonsten behandeln wir ihn ganz normal und er kann eigentlich auch fast alles ganz normal machen. Aus diesem Grunde stehe ich auch dem integrativen Schulplatz eher kritisch gegenüber. Ich finde, das Kind erhält dadurch eine Sonderstellung mit der ein normaler Schulalltag eigentlich nicht möglich ist. (Wer wagt sich schon an einen Mitschüler mit Bodyguard heran?)
Außerdem denke ich, dass im späteren Leben auch niemand neben meinem Kind sitzt und ihm die Linien im Heft nachzieht oder ihm von der Tafel vorliest. Meiner Meinung nach können wir nicht früh genug anfangen, unsere Kinder zur Selbstständigkeit zu erziehen, sie selber nach Wegen suchen zu lassen, ihre Probleme zu meistern und auch mal einen Misserfolg zuzulassen. Das Leben wird noch viel bitteres bringen, je älter unsere Kinder werden, desto größer werden auch die Probleme werden; ich weiß nicht, ob es richtig ist, ihnen in der Grundschulzeit eine „Heile Welt“ vorzugaukeln, der Sturz auf den Boden der Realität wird damit bestimmt nicht leichter. Für S. war die Entscheidung zur normalen Einschulung auf der Regelschule bestimmt richtig, und ich hoffe, dass er seinen Weg weiterhin so gut macht und lernt, nicht so streng mit sich selber zu sein.

Somit ist unser Schulbericht also im Großen und Ganzen sehr positiv, natürlich kann sich das schlagartig ändern, aber momentan genießen wir die Zeit und tanken Kraft für die stürmischen Jahre, die sicherlich noch kommen werden.
Eine kleine Anmerkung habe ich noch zum Schluß. In der letzten Arche erwähnte ein betroffener junger Mann, dass man den kleinen Albino-Buben das Kettcar fahren quasi verbieten solle, da sie ja später sowieso nie Auto fahren dürften und dieses nur unerfüllbare Wünsche weckt. Also da muss ich doch ein wenig mit dem Kopf schütteln! Warum soll ich meinem Kind schon in der Kindheit diesen Spaß nehmen, zumal jeder Junge sich doch zu Fahrzeugen jeder Art hingezogen fühlt! Vom Verständnis hier mal ganz abgesehen (wie soll ich einen zwei – oder dreijährigen erklären, wieso er nicht aufs Bobbycar darf, oder meinem fünfjährigen, dass das Kettcar für ihn ein Tabu ist; wo er doch so herrlich damit auf dem Sportplatz herumkurven kann.
Mein Sohn muß als Erwachsener mit so vielen Dingen klarkommen, die er eben nicht machen kann, das Auto fahren ist nur eines davon.

U.K. 2000