Ein Baby mit Albinismus – weitere Kinder ja oder nein?

Unser ältester Sohn A. wurde am 12. September 1993 geboren. Bei der Geburt freuten wir uns gemeinsam mit der Hebamme über die vielen strohblonden Haare, die er schon hatte. Die Hebamme meinte, so etwas hätte sie trotz 20-jähriger Berufserfahrung noch nie gesehen.

Unser Sohn war also etwas ganz Besonderes.

Bei einer kinderärztlichen Untersuchung, die 1994 stattfand fragte uns der Arzt, ob wir sicher wären, daß unser Kind überhaupt etwas sehen könnte und wir sollten so schnell wie möglich um Augenarzt gehen. Er nannte uns auch gleich zwei Adressen von Ärzten, die auf Kinder spezialisiert wären. Leider war es gar nicht so einfach einen Termin zu bekommen. Bei einem Arzt hieß es, man nehme keine Patienten mehr auf, beim anderen hätten wir eine Wartezeit von etwa vier Monaten gehabt. Zum Glück war unser Kinderarzt sehr engagiert und ermöglichte uns, durch einige Telefonate, einen früheren Termin. Wir hatten nicht vor, so lange zu warten, denn wir waren uns sicher, je früher wir wissen, was los ist, desto früher kann eine Behandlung beginnen.

Wir fühlten uns wie vor den Kopf gestoßen. Bis zum Augenarzttermin schwirrten uns tausend Fragen durch den Kopf warum sollte unser Kind nichts sehen? War es blind? Warum bewegten sich seine Augen so unruhig? Warum haben wir nichts bemerkt? Wie schaut ein gesundes Baby? Woher sollte es DAS mit den Augen haben?

Die Untersuchung beim Augenarzt brachte uns nicht sehr viel weiter. Es wurde lediglich festgestellt, daß unser Sohn Nystagmus hat. Die Sehschärfe könnte erst nach dem sechsten Lebensmonat festgestellt werden.

Nun begann für uns die Suche nach Informationen zum Thema Nystagmus. Viel haben wir nicht gefunden, nur daß es viele verschiedene Formen davon gibt und daß es mit einem genetischen Defekt im Stammhirn zusammenhängen könnte. Außerdem trete die Pendelbewegung des Auges häufig bei Menschen mit Albinismus auf. Aber woher sollte unser Sohn Albinismus haben?

Am 17.02.1994 folgte ein weiterer Arzttermin, der für uns ohne Ergebnis verlief, dabei waren wir voller Fragen. Ist unser Kind sehbehindert? Wird er mit der Behinderung zurechtkommen? Was wird mit Schule, was wird mit Beruf? Defekt an der Großhirnrinde, sind da vielleicht noch weitere versteckte Behinderungen?

Einen Monat später wurden wir darauf vorbereitet, daß A. eine Brille benötigt. Okay, mit Brille kann man leben.

Vier Wochen später hieß es, doch keine Brille. A. ist zwar weitsichtiger als andere Kinder in seinem Alter und er hat Pendelnystagmus mit mittlerer Amplitude und schielt, aber eine Brille sei nicht notwendig. Okay, wir können auch ohne Brille leben.

Dann im Mai der nächste Termin. Wir gehen mit einem Rezept für eine Brille nach Hause. A. benötigt auf dem einen Auge 4 auf dem anderen 4,5 dpt. Die Entscheidung für die Brille wurde getroffen. Da die Weitsichtigkeit und der Nystagmus zusammenhängen. Außerdem wurde eine Okkusionstherapie angeordnet. Von Albinismus war nach wie vor nie die Rede. Nun begann der Kampf mit unserem Sohn. Wie macht man einem Säugling klar, daß er seine Brille zu tragen hat und auch noch die Augen abwechselnd zugeklebt werden müssen. Immer wieder warf er die Brille weg und zerrte so lange an den Pflastern, bis sie ab waren. Wie überzeugt man Augenärzte davon, daß man weiß, wie wichtig Brille und Therapie sind, unser Sohn aber nicht daran denkt, mitzuarbeiten.

Oft kamen wir uns schuldig vor, weil wir ja wußten, wie wichtig es war, wir A. aber dennoch nicht zwingen wollten, da uns eine Erziehung ohne zu viel Druck sehr wichtig war, und immer noch ist. Denn wir wollten immer ein selbstbewußtes Kind haben (heute ist es uns noch wichtiger als damals). Wir wollten ein Kind, das sich normal entwickeln kann und nicht irgendeinen Nystagmus auf zwei Beinen.

Als A. zwei Jahre alt war, mußte er zur Untersuchung in die Uniklinik nach H.. Viel Lust an der Mitarbeit hatte er nicht und wir wurden mehr als eindringlich ermahnt, daß er sowohl seine Brille tragen müsse, als auch seine Augen abwechselnd zugeklebt werden müssen. Auf unsere Einwände, daß wir unser Möglichstes taten, aber A. schon bei Anblick eines Pflasters zu schreien begann, auch wenn wir nur sein blutiges Knie verarzten wollten, bekamen wir den Rat: „wenn Ihr Sohn gerne Süßigkeiten ißt, dann kleben Sie sein Auge zu und füttern ihn in dieser Zeit mit Gummibärchen“.

Diesen Rat befolgten wir selbstverständlich nicht, da wir uns sicher waren, daß Übergewicht und kranke Zähne den Nystagmus nicht verbessern werden. Auch nach dieser Untersuchung sprach noch niemand konkret von Albinismus.

Zu dieser Zeit erwarteten wir unser zweites Kind. Vielen Ärzten stellten wir die Frage, ob es auch eine Sehbehinderung haben könnte. Alle antworteten „Nein“, die Chance wäre unwahrscheinlich.

Am 21.11.1995 war es soweit, und die Hebamme freute sich über ein Kind mit strohblonden Haaren. Wir freuten uns auch, aber im ersten Moment dachten wir „Nein“.

Wieder hatten wir ein ganz besonderes Kind bekommen.
Irgendwie war sofort klar, daß C. die Sehbehinderung hat. Als nach acht Wochen die Bestätigung vom Augenarzt kam, waren wir schon darauf vorbereitet. Auf einmal wurde bei unseren Kindern der Verdacht auf okulären Albinismus angesprochen.

Auf Anraten eines Arztes ließen wir uns im humangenetischen Institut M. beraten, eine Blutuntersuchung folgte. Es wurde festgestellt, daß ich die Überträgerin bin, woher ich es habe, weiß niemand. Die Chance einen Jungen mit Albinismus zu bekommen liegt bei 25%, weitere 25% fallen auf einen Jungen ohne Albinismus, und je 25% auf ein Mädchen als Überträgerin und auf ein gesundes Mädchen.

Wir wurden darüber aufgeklärt, daß wir bei einer nächsten Schwangerschaft die Möglichkeit einer Fruchtwasseruntersuchung haben. Dies bedeutete im Klartext, sollte während der Schwangerschaft festgestellt werden, daß das Kind Albinismus hat, besteht die Möglichkeit der Indikation. Uns ist jedoch klar, daß wir dies nicht tun werden, daß wir, sollten wir ein drittes Kind haben wollen, es mit oder ohne Albinismus nehmen. Wir spüren an unseren Söhnen ganz deutlich, daß ein Leben mit Albinismus genau so lebenswert ist, wie ohne.

Im Sommer 1996 wurden unsere Kinder wieder an der Universitätsklinik H. untersucht. Bei beiden wurde okulärer Albinismus diagnostiziert – endlich wußten wir, wo der Nystagmus herkam. Sein Ursprung lag also nicht am Gehirn, sondern an der Blendempfindlichkeit unserer Kinder. Es wurde laut darüber nachgedacht, ob der Vater vielleicht einen Teil dazu beigetragen hat. (Er war als Kind ebenfalls strohblond, heute hat er braune Haare). Und es wurde vor vielen Jahren bei einer augenärztlichen Untersuchung festgestellt, daß er nicht räumlich sehen könne (Musterung bei der Bundeswehr).

Unsere Kinder haben inzwischen auch dunklere Haare bekommen. A. sogar braune Muttermale. Darin sieht die Professorin der Klinik die Möglichkeit, daß auch die Augen noch etwas pigmentiert werden können und somit die Blendempfindlichkeit ab- und die Sehfähigkeit zunimmt. Außerdem ist sie sich noch nicht hundertprozentig sicher, ob es wirklich okulärer Albinismus ist, oder vielleicht doch oculocutaner. Sie klärte uns auf, daß es viele verschiedene Formen von Albinismus gibt. Bei einer Form werden die Kinder fast ohne Pigmente geboren, dunkeln aber im Laufe der Zeit nach. Beide Söhne hatten bei der Geburt weiße Wimpern und Augenbrauen, die aber nach vier bis sechs Wochen wesentlich dunkler, fast braun wurden.

Unsere Kinder sind heute ein und drei Jahre alt. Beide müssen Ihre Brille tragen. Seit einem Jahr besitzt A. eine Sonnenbrille, bei C. war die Sonnenbrille das erste, auf das wir beim Augenarzt bestanden. Um A`s. erste Sonnenbrille mußten wir kämpfen, da der Arzt das Auge nicht an die Abdunkelung gewöhnen wollte, erst nachdem klar war, daß bei ihm eine Form von Albinismus vorliegt, erhielt er eine Brille mit 60% Abdunklung. A. war nie gerne im Kinderwagen, schon mit sechs Wochen begann er zu schreien, sobald er im Wagen lag. Am liebsten ließ er sich in der Bauchlage herumtragen. Früher dachten wir, unser Sohn sei nur verwöhnt. Heute wissen wir, daß er einfach nur geblendet war, und in der Bauchlage die Möglichkeit hatte, dieser ständigen Blendung zu entgehen.

Beide weigern sich mit Händen und Füßen, sich auch nur für fünf Minuten ein Pflaster auf das Auge kleben zu lassen. A. hat im Mai letzten Jahres das erste Mal seine Brille selbst ausgesucht und trägt sie täglich, die Sonnenbrille verlangt er nur, wenn die Sonne stark scheint oder im Winter bei Schnee.

C. hat seit Anfang Januar eine Brille. Nur selten, hauptsächlich beim Einkaufen oder Spazierengehen läßt er sie auf. Unser Trost ist es, daß er ja auch älter werden wird. Anfangs haben wir nicht verstanden, warum sie die Brille nicht auflassen, schließlich sahen sie ja dadurch besser, inzwischen ist es uns bewußt, daß sie im ersten Moment ja schlechter sehen, da das Gehirn an ihr Sehen gewöhnt ist und sich mit jedem Aufsetzten der Brille umstellen muß.

Unsere Familie wird seit fast einem Jahr von der pädagogischen Frühförderung für sehbehinderte und blinde Kinder betreut, hier erhalten wir wertvolle Tips, wie wir unsere Kinder fördern und ihnen das Sehen erleichtern können.

A. wird im Sommer den Kindergarten besuchen.

Beide Kinder sind sehr selbstbewußt, normal entwickelt und machen uns sehr viel Freude. Wir wissen, daß sie ihren Weg gehen werden und, so lange wir können, werden wir sie bei all ihren Vorhaben unterstützen und ihnen nicht sagen, das kannst du nicht, weil du nicht genug siehst.

Häufig werden wir darauf angesprochen, wie schön blond unsere Kinder sind wo doch beide Eltern dunkle Haare haben. So mancher Witz wurde darüber gemacht. Wie oft wurden unsere Kinder mitleidig angeschaut, weil ein Auge abgeklebt war, oder als Säugling eine Brille trugen. Wenn wir auf die Frage „Warum?“ sagten, unsere Kinder haben Albinismus, ernteten wir die verschiedensten Reaktionen. Von Unwissenheit bis Gelächter, weil man es für einen tollen Witz hielt, war alles dabei.

Die Professorin der Uniklinik sagte uns, in der Tierwelt, sei Albinismus etwas ganz besonderes, man soll an die weißen Tiger, Elefanten und Hirsche denken. Sie werden verehrt.

So wollen wir es auch bei unseren Kindern halten, sie sind etwas ganz Besonderes und wir weigern uns, Albinismus als Krankheit zu sehen.

I.N. 1997